Missbrauchsstudie der EKD

Veröffentlicht am 30. Januar 2024

Die Publikation der Missbrauchsstudie am 25. Januar hat die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) «zutiefst erschüttert», wie es die amtierende Ratsvorsitzende der EKD Bischöfin Kirsten Fehrs ausdrückte. Eine Zusammenfassung der Resultate und eine Einschätzung, was das für die Reformierte Landeskirche Aargau bedeutet.

Im Fokus der Medien standen zuerst die Zahlen: 1259 Beschuldigte und 2225 Betroffene listet die Studie für den Untersuchungszeitraum 1946 bis 2020 auf. Diese Zahlen seien jedoch nur «die Spitze der Spitze des Eisberges», sagte Studienleiter Martin Wazlawik. Für die Erhebung dieser Zahlen standen drei Quellen zur Verfügung: Die Anträge auf Anerkennungsleistungen, die Disziplinarakten, sowie die Personalakten, die allerdings nur von einer kleineren Landeskirche systematisch durchsucht wurden. Dabei zeigte sich, dass 74 Prozent der Betroffenen und 57 Prozent der Täter aufgrund der Disziplinarakten nicht hätten identifiziert werden können. Eine spekulative Hochrechnung basierend auf diesen Prozentsätzen führte zu den von den Medien kommunizierten 3497 Beschuldigten und 9355 Betroffenen.
Die Studienautoren weisen darauf hin, dass ein Grossteil des Missbrauchsgeschehens vermutlich nie Eingang in die Akten gefunden hat. Zentral liegen nur die Akten der Pfarrpersonen vor. Andere Mitarbeitende im Bereich Kinder- und Jugendarbeit oder die grosse Zahl Ehrenamtlicher sind in den Kirchgemeinden angestellt und daher nicht zentral erfasst. Dieses grosse Feld konnte die Studie praktisch nicht erschliessen.
Missbrauch fand in allen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit statt – insbesondere an Orten, wo berufliche und private Lebensführung vermischt werden, also in Heimen und im Pfarrhaus. 99 Prozent der Täter waren männlich und bei der ersten Tat durchschnittlich 35-40 Jahre alt. 41 Prozent waren Pfarrer (die aufgrund der Datenlage jedoch eher überrepräsentiert sein dürften). Zwei Drittel der Täter waren verheiratet. Jeder zweite der Täter war ein Mehrfachtäter, der im Durchschnitt fünf Personen sexuelle Gewalt zufügte. Die Betroffenen waren bei der ersten Tat durchschnittlich etwa 11 Jahre alt, mehrheitlich weiblich (55 Prozent). Bezüglich der Tathandlungen berichteten die meisten Betroffenen von direktem körperlichen Kontakt und ein Drittel von länger andauernden, wiederholten Übergriffen. Die Offenlegung des Missbrauchs durch die Betroffenen erfolgte meist erst nach einer langen Zeit des Schweigens, 30-50 Jahren nach den Übergriffen und erst als die Kirche unabhängige Meldestellen eingeführt hatte.

Die Interviews mit den Betroffenen

Eine Stärke der Studie sind die ausführlichen Interviews mit über 100 Betroffenen, die einerseits eine Aussenwahrnehmung ermöglichen und deutlich die Diskrepanz zum idealisierten Selbstbild der Kirche vor Augen führen. Dank der Aussagen der Betroffenen wurden Strukturen aufgedeckt, die Missbrauch ermöglichen. Dabei wurden zwei Punkte deutlich:


  1. Es gibt – auch in der evangelischen Kirche – Risikofaktoren und spezifische Strukturen, die die Täter schützen. Die benannten Risikofaktoren betreffen die föderale Struktur der Kirche, das idealisierte Bild von Kirche als harmonischem, sicheren Ort und die Machtposition von Pfarrpersonen.
  2. Es wurde viel zu lange weggeschaut. Aufarbeitung fand immer erst auf Druck durch Betroffene statt, nie proaktiv durch kirchliche Stellen. Insbesondere, da die meisten Täter Mehrfachtäter waren, hätte rasches, proaktives Handeln der Kirche Leid verhindern können.

Risikofaktoren

Detlef Zander, Mitglied des Betroffenenbeirats, sprach bei der Präsentation der Studie von «Verantwortungsdiffusion» und sagte: «Föderalismus ist ein Grundpfeiler sexualisierter Gewalt». Betroffene sähen sich einer Institution gegenüber, deren Strukturen sie kaum überblicken, haben bei Meldungen oft keine klare Ansprechperson, könnten nicht nachvollziehen mit welchen Prozessen ihr «Fall» innerhalb der Institution bearbeitet werde und blieben so in einer Ohnmachtsposition. Betroffene würden häufig pathologisiert oder ausgeschlossen, gegen ihren Willen «beseelsorgt» oder ihnen würde ihr Wissen und ihre Erfahrung abgesprochen.
Grund dafür sei auch das idealisierte Selbstbild der Kirche. Das Harmoniestreben der Kirche, die Atmosphäre der Geborgenheit und die imaginierte Idealgemeinschaft schaffe einen Vertrauensvorschuss für Mitarbeitende, ermögliche so die Anbahnung übergriffigen Verhaltens und verhindere die Aufarbeitung. Schwierig sei für Betroffene vor allem der Vertrauensverlust: Da Kirche oft ein Stück Heimat war, hat dies gravierende Konsequenzen für langfristigen Partnerschaftsbeziehungen und die Spiritualität der Betroffenen.
Auch theologische Deutungen vor dem Hintergrund von Schuld und Vergebung/Gnade werden von den Betroffenen als unangemessen kritisiert, insbesondere da der Schritt der Reue oft übersprungen und die Betroffenen mit Wünschen nach Vergebung sexualisierter Gewalt konfrontiert würden. Durch den Vergebungsdruck entstehe eine Täter-Opfer-Umkehr und erneute Grenzverletzungen.
Gerade Pfarrer, könnten aufgrund ihrer Stellung in der Gemeinde als Respekts- und Vertrauensperson, sowie aufgrund ihrer theologischen Deutungskompetenz und ihrer rhetorischen Fähigkeiten Taten einfach anbahnen, manipulieren und kritische Anfragen oft abwehren.

Die Wünsche der Betroffenen

Die Betroffenen wünschten sich, dass die Kirche ihre Konfliktunfähigkeit und ihren Harmoniezwang überwindet. In konflikthaften Entwicklungen des Aufarbeitungsprozesses dürfe die Zielperspektive nicht in einer möglichst raschen gütlichen Einigung liegen, indem die Betroffenen zur Vergebung aufgefordert werden und Fälle möglichst rasch und geräuschlos juristisch abgearbeitet würden. Betroffene wollen vor allem gehört werden. Sie wünschen, dass ihre Erfahrungen anerkannt werden. Dieser Wunsch nach Vergewisserung resultiere aus einer existentiellen Not. Kirchliche Aufarbeitung müsse Bedingungen für eine Erinnerungskultur schaffen und das Zeugnis der Betroffenen wertschätzen.

Was heisst das für uns im Aargau?

Einige der benannten Risikofaktoren sind unter Aargauer Bedingungen weniger relevant: Das Diakonische Werk ist in Deutschland einer der grössten Arbeitgeber und betreibt etwa 33 000 Einrichtungen, darunter 370 Krankenhäuser, sowie Kindertagesstätten, Beratungsstellen und Sozialstationen. Diese Strukturen sind in den reformierten Kirchen der Schweiz kaum verbreitet, sondern werden staatlich betrieben.
Andere Risikofaktoren, wie zum Beispiel die föderale Struktur, sind bei uns hingegen deutlich stärker ausgeprägt. Kirchgemeinden sind selbstständiger und unabhängiger organisiert als in Deutschland.
Es ist zu vermuten, dass die Fälle in der Reformierten Landeskirche Aargau in einem vergleichbaren Rahmen wie in Deutschland liegen: Die EKD hatte bei 19 Millionen Mitgliedern über einen Erfassungszeitraum von 74 Jahren 1259 Beschuldigte. Bei 144 000 Mitgliedern im Aargau wären in einem Zeitraum von zwölf Jahren umgerechnet 1.4 Fälle zu erwarten. Das entspricht den strafrechtlich relevanten Meldungen der letzten zwölf Jahre, sodass wir davon ausgehen müssen, dass die Situation bei uns grundsätzlich ähnlich ist. Abgesehen davon sind Zahlen aber immer relativ: gerade in Landeskirchen, wo gute Präventionsarbeit geleistet wird, und zugängliche Meldestellen existieren, werden mehr Fälle identifiziert.

Handeln!

Der Kirchenrat ist daher dankbar für jede Meldung von Irritationen im Umgang mit Nähe und Distanz und kritischem Umgang von Macht. Nur so kann angemessen und frühzeitig reagiert werden. Informationen zu landeskirchlichen, wie auch zu unabhängigen Ansprechpersonen wurden auf der Webseite ref-ag.ch aufgeschaltet.
Der Schutz aller Menschen in der Kirche hat für die Reformierte Landeskirche Aargau oberste Priorität. Meldungen von möglichen Missbrauchsfällen oder Grenzüberschreitungen nimmt der Kirchenrat daher sehr ernst und verfolgt jede Meldung weiter. Strafrechtlich relevante Fälle werden sofort den Zivilstrafbehörden übergeben. Grenzverletzendes Verhalten unterhalb der strafrechtlichen Schwelle wird gemäss Interventionsschema behandelt.
Gerade Seelsorge und Jugendarbeit sind sensible Bereiche. Von allen Mitarbeitenden in Pfarramt, Sozialdiakonie, Katechetik und Jugendarbeit wird daher seit 2019 ein Sonderprivatauszug eingefordert. Bei kantonsüberschreitenden Stellenwechseln von Pfarrpersonen werden seit 2020 Referenzauskünfte von anderen Landeskirchen eingeholt. Mit dem Verhaltenskodex und den Schulungen zur Prävention wird eine Kultur der Ansprechbarkeit gefördert und das sorgsame Gestalten von Risikosituationen eingeübt. Der Verhaltenskodex gilt auch für Ehrenamtliche und Freiwillige, die mit Kindern, Jugendlichen oder Menschen in Abhängigkeitssituationen zu tun haben.
Da aufgrund der föderalen Strukturen viele Pflichten bei den lokalen Kirchenpflegen liegen, hat der Kirchenrat die wichtigsten Punkte in einem Kreisschreiben zusammengefasst und an alle Kirchenpflegen verschickt. Zur Unterstützung der Kirchgemeinden wurde die Fachstelle Prävention geschaffen. Sie ist Ansprechstelle bei allen Fragen zum Schutz vor Grenzüberschreitungen und sexuellen Übergriffen und steht den Kirchenpflegen auch für Schulungen, Beratungen und Abklärungen zur Verfügung.
Einige Massnahmen müssen auf Ebene der Evangelische Kirche Schweiz (EKS) in Angriff genommen werden. Die EKS hat bereits angekündigt, eine zentrale Meldestelle schaffen zu wollen. Ebenso beabsichtigt sie, eine schweizweite Missbrauchsstudie zu initiieren und wird dies an den nächsten beiden EKS-Synoden diskutieren. Für eine Studie müssten die Kriterien von Grenzverletzung und Missbrauch präziser definiert, die Rahmenbedingungen hinsichtlich der geltenden kantonalen Datenschutzgesetze geklärt, ein unabhängiges Forschungsgremium gefunden, sowie die Finanzierungsfragen geklärt werden. Auch Beteiligungskonzepte und allfällige Anerkennungszahlungen für Betroffene werden dann diskutiert werden müssen.

Glaubwürdigkeit

Die deutsche Studie macht klar: Missbrauch kann überall geschehen und wir als reformierte Kirche sind davon nicht ausgenommen. Deshalb ist es zentral, eine Kultur des Ansprechens zu fördern und Berichte von Betroffenen nicht abzuwehren: nicht primär die Betroffenen sollten ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen müssen, sondern wir als Kirche sollten glaubwürdig handeln.